Fünf Wochen nach Kriegsbeginn startete die erste russische Invasion in den nördlichen Teil der Bukowina und nach Czernowitz. Die Übergabe der Stadt an den Kommandierenden der russischen Truppen durch den jüdischen Bürgermeister Salo Weisselberger am 2. September 1914 verlief ruhig und ohne Exzesse. Kurz darauf wurden jedoch führende lokale Repräsentanten – insbesondere Juden – als Austauschgefangene oder soldatische Kriegsgefangene aus der Stadt nach Sibirien sowie in die Regionen des heutigen Turkmenistans (Aschgabad) und Usbekistans (Buchara, Samarkand) deportiert. Unter den Verschleppten befanden sich Bürgermeister Weisselberger, Philipp Menczel (Anwalt und Herausgeber der Czernowitzer Allgemeinen Zeitung) und die Zionisten Mayer Ebner und Manfred Reifer. Einige von ihnen hielten ihre Kriegs- und Lagerhafterfahrungen schriftlich fest und veröffentlichten sie später. Die erste russische Besatzung endete am 20. Oktober 1914, nachdem Oberst Eduard Fischer und sein Landwehrregiment mit Freiwilligen trotz erheblicher zahlenmäßiger Unterlegenheit die Stadt zurückerobern und bis zum 28. November 1914 halten konnte. In dieser Freiwilligen-Armee dienten auch 500 Juden (Röskau-Rydel, 285).

Während der anschließenden zweiten russischen Invasion herrschten dann chaotische Zustände. Behörden verließen überstürzt die Stadt, ohne die Bewohner zu informieren. Über die Zahl der Flüchtlinge und der verbliebenen Bewohner liegen nur ungenaue Angaben vor. Angeblich sollen Ende November 1914 nur noch 10.000 Menschen in Czernowitz verblieben sein. Mindestens die Hälfte der jüdischen Bevölkerung aus Galizien und der Bukowina – ca. 900.000 Menschen – war auf der Flucht (Schuster, 125). Am 17. Februar 1915 wurde die Region wiederum von österreichischen Truppen eingenommen und bis Mitte Juni 1916 gehalten. Zwischen dem 18. Juni 1916 und 3. August 1917 folgte dann die dritte russische Okkupation. Über diese letzte Phase berichten nur noch wenige Quellen. Der Bukowinaer Bote – eine vom 11. Oktober 1916 bis zum 8. August 1917 wöchentlich erscheinende, zweiseitige Beilage der Morgenausgabe der Prager Deutschen Zeitung Bohemia – informierte die Flüchtlinge über die Kriegslage in der Bukowina, über Kriegsgefallene und Vermisste und half bei Behördenfragen (zeitweise hatten alle Behörden der Bukowina – mit Ausnahme des Bukowiner Landeskulturrats in Wien – ihren Sitz in Prag). Ab März 1917 stand die Region unter dem Eindruck der russischen Revolution, deren Ausläufer auch in Czernowitz Spuren hinterließen. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung druckte unmittelbar nach ihrem Wiedererscheinen (25. August 1917) eine achtteilige Artikelserie „Die dritte Invasion von Czernowitz“ über die Vorgänge in dieser Zeit (zwischen dem 28. August und 8. September 1917).

Text: Markus Winkler

Quellen:

  • Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919) (Lebenswelten osteuropäischer Juden 9), Köln–Weimar–Wien 2004
  • Isabel Röskau-Rydel (Hg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas: Galizien, Bukowina, Moldau, Berlin 1999, S. 285. Angabe entnommen aus Eduard Fischer, Krieg ohne Heer: Meine Verteidigung der Bukowina gegen die Russen, Wien 1935
  • Markus Winkler: Der Erste Weltkrieg: Wahrnehmung und Deutung aus der Perspektive deutschsprachiger Juden aus der Bukowina. In: Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Petra Ernst und Eleonore Lappin-Eppel. Innsbruck 2015, S. 51-73

 Materialien:

  • Julius Weber: Die Russentage in Czernowitz. Die Ereignisse der ersten und zweiten russischen Invasion, Czernowitz 1915
  • Philipp Menczel: Als Geisel nach Sibirien verschleppt. Berlin, Wien 1916
  • Manfred Reifer: Menschen und Ideen. Tel Aviv 1952
  • Prive Friedjung: „Nach einiger Zeit hatte die Front auch unser Dorf erreicht“. In: Christa Hämmerle (Hg.): Kindheit im Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar 1993, S. 150-163
  • Lydia Harnik: Erinnerungen an die Flucht vor der Russeninvasion nach Wien im August 1914. In: Albert Lichtblau (Hg.): Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien, Köln, Weimar 1999, S. 261–266
  • Moses Rosenkranz: Kindheit. Fragment einer Autobiographie. Aachen 2001
  • Wolfdieter Bihl u.a. (Hg.): Czernowitz im Ersten Weltkrieg. Aus dem Tagebuch des k. k. Landesgerichtsrates Dr. Alfons Regius. In: Österreichische Osthefte. Zeitschrift des Österreichischen Ost-und Südosteuropa-Instituts 27 (1985) 2, S. 115–213