Auf den ersten Blick scheint der soziale Nährboden für eine solche Initiative in Czernowitz gefehlt zu haben. Czernowitz war keine Großstadt, es gab keine Einwanderungsbewegung und kaum Industrialisierung, die zu sozialen Verwerfungen hätte führen können. Hingegen gab es eine relativ starke Dienstleistungsgesellschaft aus Beamtenschaft, Lehrern, Angestellten und Angehörigen freier Berufe mit einem großen jüdischen Anteil. In Czernowitz waren es daher vor allem solche Gruppe, die an den kulturellen Veranstaltungen teilnahmen, Kurse belegten oder die Bibliothek nutzten.
Das vierstöckige und großflächige Gebäude war nach siebzehnmonatiger Bauzeit entstanden und umfasste laut einer zeitgenössischen Beschreibung bei seiner Eröffnung folgende Räumlichkeiten: einen "im elektrischen Lichte strahlenden Festsaal samt Nebenräumlichkeiten, die für die Bewirtung der Toynbeehallegäste zweckmäßig eingerichtete Küche, die Sitzungszimmer des Kuratoriums und des Damenkomitees, das im zweiten Stockwerke untergebrachte Lehrlingsheim bestehend aus 2 Schlafsälen, einem Lehrzimmer und einem Waschraume, den Raum für die maschinelle Vorrichtungen zur Veranstaltung von Lichtbildern, die gleichfalls in der Toynbeehalle untergebrachte Vorschußkasse für Kleinhandel und Kleingewerbe (ICA-Bank), den hebräischen Kindergarten und die hebräische Sprachschule Safah Ivriah […]" (Der Jüdische Volksrat, 28. November 1913, S. 1).
Die Tätigkeit der Jüdischen Toynbee-Halle kam mit Kriegsausbruch 1914 zum Erliegen und wurde erst am 6. Dezember 1919 wieder aufgenommen. Angekündigt waren Vorträge über die nationale Erziehung und Aufklärung und musikalische Darbietungen. Auch der Unterrichtsbetrieb, die Fortbildungskurse und die Vortragszyklen der jüdisch-akademischen Verbindungen wurden fortgesetzt. Die Funktionalität des Gebäudes weitet sich aus. Fortan hatte das Bukowinaer zionistische Landeskomitee seinen Sitz im Gebäude und 1923 wurde eine jüdische Volksbibliothek eröffnet, die allen zugänglich war. Im Juni 1928 entstand ein neuer Lesesaal, der die internationale jüdische Presse den Nutzern zur Verfügung stellte. Zu besonderen Anlässen spielte das jüdische Stadttheater von Max Reisch im Festsaal und auch der jiddische Fabeldichter Elieser Steinbarg studiert hier seine Kinderdramen ein. Bis in die 1930er-Jahre hinein war im hinteren Gebäudeteil auch die hebräische Sprachschule Safah Ivriah untergebracht.
Eine ganz andere und bedeutende Funktion besaß die Toynbee-Halle dann in den Kriegsjahren. Nachdem rund zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in die Lager Transnistriens deportiert worden waren, nahm die Einrichtung eine singuläre Rolle als Bildungsanstalt für jüdische Schüler und Schülerinnen ein. Es wurden nun jüdische Kinder aus Familien unterrichtet, die 1941 eine sogenannte Autorisation der rumänischen Behörden erhalten hatten und in Czernowitz bleiben konnten. Die öffentlichen Schulen blieben ihnen verschlossen, so dass sie – wie sich der Zeitzeuge Abraham Kogan (geb. 1926 in Czernowitz) erinnert – in der Toynbee-Halle unterrichtet wurden:
"During WWII, in 1942-1943, during what we call the ,Ghetto Period‘, the leaders of the small Cz.[Czernowitz] Jewish community managed to obtain a special permission from the authorities to use the Toynbee-Halle building for establishing an improvised high school. It was intended to provide secondary school education for teenagers from Jewish families that in 1941 got an ,Autorizatie‘ [Autorisation] and were left to stay in Cz. It was very important to have such school at that time because Jewish families could not afford it to pay for private tuition. How those leaders managed to get such permission is a mystery for me. In hindsight, while the Ghetto system was still in place, the idea to organize such a school was something implausible. Nevertheless, we got excellent and very competent Jewish teachers." (Abraham Kogan, 25. Juni 2007, Quellenachweis).
Heute gehört das Gebäude einer adventistischen Gemeinde. Die Außenfassade wie auch die Räumlichkeiten bzw.der Grundriss im Gebäude sind nahezu unverändert geblieben.
Text: Markus Winkler
Quelle:
- Markus Winkler: Toynbee-Halle in Czernowitz 1913: Zur Rekonstruktion einer jüdischen Bildungseinrichtung. In: ders. (Hg.): Partizipation und Exklusion: Zur Habsburger Prägung von Sprache und Bildung in der Bukowina. 1848 – 1918 – 1940. Regensburg 2015 (= Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München 132), S. 215-227