Für die Sowjetunion stand zu diesem Zeitpunkt nicht nur die militärische Kontrolle der Region im Vordergrund. Es ging in den Nachkriegsjahren auch darum, die Grenzregion national zu homogenisieren bzw. zu sowjetisieren und zu ukrainisieren (Hausleitner, S. 428). Die Demobilisierung der Roten Armee und das Kriegsende sorgten für einen starken Zuzug von ukrainischen und russischen Familien, aber auch von Juden aus östlichen Landesteilen in die Stadt und das Gebiet. Es gab daher auch einen Bedarf an Wohnraum für die Neuankömmlinge, was ein weiterer Grund für die sowjetische Unterstützung der Ausreise von Juden gewesen sein mag, da dadurch begehrte Wohnungen frei wurden. Bis zum 1. Januar 1946 kamen 15.559 demobilisierte Soldaten der Roten Armee in das Czernowitzer Gebiet, 3.100 von ihnen ließen sich in Czernowitz nieder (Frunchak, S. 317). In der Grenzregion lebten auch noch viele Menschen mit rumänischer und polnischer Staatsbürgerschaft, mit Biographien aus anderen politischen Zeiten und Systemen. Für sie sollte schnell eine Lösung gefunden werden und es war naheliegend, sie nach Rumänien und Polen umzusiedeln (Altshuler, S. 59). Es folgten zwei bilaterale Abkommen, die 1945 und 1946 zu starken Migrationsbewegungen bzw. klassischen Repatriierungsprozessen in der nördlichen Bukowina führten, was die gewünschte nationale Homogenisierung der Region beförderte. Durch ein sowjetisch-polnisches Abkommen über einen Bevölkerungsaustausch reisten 10.490 Personen bis Juli 1946 aus der Bukowina nach Polen aus, darunter waren auch 2.041 Juden (Feleszko, S. 143). Auf Basis eines sowjetisch-rumänischen Vertrages waren 12.412 Rumänen bereits zwischen 10. und 25. April 1945 umgesiedelt worden (Javors’ka, S. 163).
Im zeitlichen Kontext mit diesen Abkommen stehen auch die nun forcierten Aussiedlungsmaßnahmen für die Czernowitzer Juden durch die sowjetischen Behörden. Der sowjetische Innenminister Lavrentij Berija leitete Anfang Juli 1945 ein entsprechendes Schreiben Chruščevs an Stalin weiter. Chruščev vertrat die Meinung, dass Juden aus der Nordbukowina, die vor dem 28. Juni 1940 keine sowjetischen Staatsbürger gewesen seien, die sowjetische Staatsbürgerschaft aufgeben und nach Rumänien emigrieren sollten (Altshuler, S. 58). Dem Schreiben Chruščevs war zugleich ein Resolutionsentwurf Berijas und des sowjetischen Außenministers Vjačeslav Molotov beigelegt, den Stalin akzeptierte. Der Entwurf lautete wie folgt: „Personen jüdischer Nationalität in der Nordbukowina, die vor dem 28. Juni 1940 nachweislich keine sowjetischen Staatsbürger waren, ist es gestattet, ihre sowjetische Staatsbürgerschaft aufzugeben und aus dem Gebiet Černovcy der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik nach Rumänien zu emigrieren“ (zit. n. Altshuler, S. 60, hier aus dem Russischen ins Englische übersetzt, Übersetzung ins Deutsche erfolgte durch den Verfasser).
Die Resolution, die quasi wortgleich mit Chruščevs Empfehlungen war, wurde von der sowjetischen Regierung (Resolution Nr. 2026-525ss, 8. August 1945) und von der ukrainischen Regierung (Resolution Nr. 1398-102, 31. August 1945) angenommen. Im Vergleich zu den sowjetisch-polnischen und -rumänischen Abkommen gab es aber signifikante Unterschiede. Die Resolution verstieß offen gegen das internationalistische Prinzip der sowjetischen Staatsangehörigkeitspolitik und es war eine alleinige und unilaterale Entscheidung der Sowjetunion ohne Absprache mit Rumänien. Innerhalb von sechs Monaten – bis Februar 1946 – wurden alle Vorbereitungen zur Ausreise getroffen, ohne diese mit rumänischen Behörden zu koordinieren. Erst kurz vor dem Abtransport entschied sich die sowjetische Regierung dazu, mit den Rumänen Ablauf, Zeitpunkte und Grenzübergänge zu besprechen (Altshuler, S. 62).
Ein weiterer Unterschied zu den anderen Abkommen bestand in der Bewertung dieser Maßnahme durch die sowjetischen Behörden. Während die Rückkehr nach Polen in den Dokumenten als „Repatriierung“ bezeichnet wurde, tauchen in den offiziellen Unterlagen zur Ausreise der Juden andere Termini auf Russisch auf: vyezd („Auszug“, „Emigration“) und pereselenie („Umsiedlung“). In ihrer internen Korrespondenz zeigten sich die Behörden weniger diplomatisch und sie entlarvten ihre Einstellung, indem sie einen negativ konnotierten Begriff verwendeten. Ivan Zelenjuk (Sekretär des Gebietskomitees der Kommunistischen Partei in Černovcy) bezeichnete die Ausreise in einem Brief vom 16. November 1945 als vydvorenie („Vertreibung“, „Ausschluss“ oder auch „Rauswurf“, Altshuler, S. 63).
Viele Juden aus der Stadt stellten umgehend einen Ausreiseantrag. Sie verloren ihre Arbeit, mussten Lebensmittelkarten zurückgeben und warteten auf gepackten Koffern. Als sie begannen, täglich die Parteizentrale und Regierungsgebäude zu belagern, forcierten die Behörden, was ziemlich ungewöhnlich war, das Tempo der Registrierung und Ausreisebewilligungen (Altshuler, S. 64). Eigentlich konnte nur das Präsidium des Obersten Sowjets über die Rücknahme der Staatsbürgerschaft entscheiden und zu Beginn gelangten die Unterlagen zuerst nach Moskau. Anschließend entschied man sich jedoch, diesen Weg abzukürzen. Die ukrainische Regierung erhielt die Entscheidungsgewalt und in Czernowitz wurde eine Kommission eingerichtet, die die Registrierung und Ausreiseunterlagen prüfte und nur noch eine Liste mit den Namen der Juden, die ausreisen wollten, nach Kiew sandte, wo dann in fast allen Fällen dem Antrag auf Rücknahme der sowjetischen Staatsbürgerschaft stattgegeben wurde (Altshuler, S. 62).
Nach einem Bericht Zelenjuks vom 6. Mai 1946 hatten 17.503 Juden über 18 Jahre einen Ausreiseantrag gestellt. 17.461 (99,8 Prozent) wurde die Ausreise gestattet, wobei sich letztendlich noch ca. 6 Prozent dagegen entschieden und in Czernowitz bzw. in der nördlichen Bukowina blieben. Insgesamt reisten 21.155 Juden (inklusive 4.894 Kinder und Jugendliche) im Zeitraum Anfang Februar bis zum 22. April 1946 mit organisierten Transporten aus. Darüber hinaus hatten weitere 1.152 Juden ihre sowjetische Staatsbürgerschaft aufgegeben und in diesem Zeitraum die Grenze individuell und legal überquert. Die offizielle Zahl der Juden, die auf diese Weise die nördliche Bukowina verließen – durch Aufgabe der sowjetischen Staatsbürgerschaft bzw. durch eine von den sowjetischen Behörden kontrollierte Ausreisepraxis –, belief sich demnach auf 22.307 Juden (10.072 Frauen, 7.133 Männer und 5.102 Kinder). Jüdische Familien vom Land durften zwei Tonnen mit persönlichem Eigentum mitnehmen, städtische Familien eine Tonne. In Fahrzeugen lokaler Fabriken und des karpatischen Militärdistrikts wurden die Juden über die Grenze gebracht. Der Brief von Zelenjuk an Demjan Korotčenko (Sekretär des Zentralkomitees der KP in der Ukraine) war mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen (Briefabdruck in Altshuler, S. 74f.).
Text: Markus Winkler
Foto: Migrationsakte von Manfred Reifer vom 25. Juni 1947 (http://www.archives.gov.il)
Quellen:
- Mordechai Altshuler: The Soviet „Transfer“ of Jews from Chernovtsy Province to Romania, 1945-1946. In: Jews in Eastern Europe (1998), 2 (36), S. 54-75
- Kazimierz Feleszko: Die Polen in Czernowitz. In: Harald Heppner (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt. Köln 2000, S. 129-144
- Svitlana Frunchak: The Making of Soviet Chernivtsi: National “Reunification,” World War II, and the Fate of Jewish Czernowitz in Postwar Ukraine. Toronto 2014
- Mariana Hausleitner: Die Rumänisierung der Bukowina. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs Großrumäniens 1918-1944. München 2001
- Iryna Javors’ka: Žyttja jak pošuk raju. Emihracija jevreïv z Černivec’koï oblasti (1944-1991 rr.). [Leben als Suche nach dem Paradies. Emigration der Juden aus dem Czernowitzer Gebiet 1944 bis 1991]. Černivci 2016
- Markus Winkler: Emigration oder Verbleib: Juden in Czernowitz nach 1944. In: Wolfgang Benz und Matthias Weber (Hg.): Exodus – die Juden Europas nach dem Holocaust. Berlin 2017, S. 135-148