Offenbar wollte Moissi, nachdem der Vorhang vorzeitig gefallen war, noch einige Worte an das Publikum richten, was aber aufgrund antisemitischer Zwischenrufe nicht mehr möglich war. Die sozialdemokratische Lokalzeitung Der Vorwärts bezeichnete die Übergriffe der Studenten als eine „Manifestation des Hasses“ (Vorwärts, Nr. 288, 31. Dezember 1921, S. 2f.). Ob die Störung im Vorfeld geplant war und einen Abbruch provozieren sollte, ist unklar. Allerdings hatten bereits am 11. Dezember 1921 Mitglieder der rumänischen Studentenverbindung „Arboroasa“ den Generalinspektor für Kunst Grigori Pantasi darum gebeten, das Stadttheater für ein Konzert am 29. Dezember 1921 zur Verfügung zu stellen. Da sich diese Veranstaltung mit der „Räuber“-Aufführung zeitlich überschnitten hätte, wurde mit dem Theaterdirektor Wilhelm Popp eine Vorverlegung vereinbart. Offensichtlich verzögerte sich diese geplante Vorverlegung aber um vierzig Minuten, da Beamte der Finanzdirektion vor der „Räuber“-Aufführung noch die Abrechnung der auf die Theaterkarten erhobenen Steuer zu überprüfen hatten (Vorwärts, ebd.). Dadurch musste das rumänische Publikum – darunter auch hohe Beamte und Universitätsprofessoren – vor dem Theatergebäude warten, was zu Unruhe führte.
Der Eklat hatte weitreichende Konsequenzen. In den folgenden Tagen kam es an der Universität und im Theater zu Kundgebungen rumänischer Studenten, die sich gegen das weitere Bestehen eines deutschen Theaters in Czernowitz richteten und die Umwandlung in eine rumänische Bühne verlangten. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung berichtete, dass nach einer Versammlung rumänischer Studenten im Stadttheater am 1. Januar 1922, an der auch Universitätsprofessoren teilnahmen, das Theater zu einem rumänischen Nationaltheater erklärt worden war. Studenten brachten im Theatergebäude provisorisch Tafeln an – mit den Aufschriften „Teatrul Naţional“ und „Hier dürfen fremde Truppen nicht mehr spielen“ (Czernowitzer Allgemeine Zeitung, Nr. 1293, 3. Januar 1922, S. 2). Ein Vertreter des rumänischen Innenministeriums, der zur Beilegung der Krise nach Czernowitz entsandt worden war, forderte die Absetzung Popps, da dieser „durch ein überaus inkonziliantes Benehmen die Rumänen während der ganzen Zeit seines Wirkens brüskiert [hatte]; hierfür musste der Studentenschaft, welche diesmal der Exponent der rumänischen Bevölkerung war, eine Satisfaktion geboten werden“ (Interview in: Das Volk, Nr. 773, 6. Januar 1922, S. 2). Eine staatliche Kommission untersuchte die Vorfälle, verhandelte gleichzeitig über die zukünftige Gestaltung des Czernowitzer Stadttheaters und beschloss die Umbenennung des Theaters in „Teatrul Naţional“ und das vorwiegende Nutzungsrecht eines noch zu bildenden ständigen rumänischen Ensembles.
In theatergeschichtlichen Abhandlungen wird darauf verwiesen, dass mit dem Abbruch der „Räuber“-Aufführung auch die Ära der deutschsprachigen Bühne im Czernowitzer Stadttheater endete und das Ensemble fortan im Musikvereinssaal auftrat (Georg Drozdowski: Zur Geschichte des Theaters in der Bukowina. In: Franz Lang (Hg.): Buchenland. Hundertfünfzig Jahre Deutschtum in der Bukowina. München 1961, S. 451-472, hier S. 464f.). Da zu diesem Zeitpunkt jedoch noch kein eigenständiges rumänisches Theaterensemble in Czernowitz bestand, wurden auch nach dem Theatereklat deutschsprachige Stücke im Theater aufgeführt und die Theatersaison 1921/22 zu Ende geführt (die Theatersaison dauerte üblicherweise von Oktober bis April). Popp blieb Direktor des deutschsprachigen Ensembles und handelte für die Theatersaison 1922/23 noch einen Vertrag über eine verkürzte Spielzeit aus. Es folgte eine Übergangsphase, in der sich das deutschsprachige Ensemble die Bühne des „Teatrul Naţional“ mit einer rumänischen Theatertruppe teilte. Dies führte dazu, dass im Herbst 1922 die rumänische Theatertruppe „Compania lirică romană“ von Max Leonard mehrere Monate in Czernowitz überwiegend mit Operetten spielte und in dieser Zeit kein deutschsprachiges Theater spielen konnte (Czernowitzer Morgenblatt, Nr. 1228, 30. Juli 1922, S. 5). Diese für das deutschsprachige Theaterpublikum bislang ungewohnte Konstellation führte zu einer inneren Krise des deutschen Theaters, die sich in der Kritik der Presse und insbesondere des im April 1921 gegründeten „Czernowitzer Theatervereins“ gegenüber Popp manifestierte. Nachdem Popp im Herbst 1922 mit zwei Ensembles in Bukarest und Hermannstadt gastiert hatte, sollte die deutschsprachige Theatersaison in Czernowitz erst im Dezember 1922 beginnen. Popp wurden daraufhin vertragliche Fehlleistungen vorgeworfen. Offensichtlich hatte er mit dem Kultusministerium in Bukarest die Abmachung getroffen, drei Monate lang mit einem deutschen Ensemble im Nationaltheater zu spielen, dass aber in der restlichen Zeit „kein deutsches Theaterensemble in Czernowitz Vorstellungen geben darf“ (Czernowitzer Morgenblatt, Nr. 1271, 24. September 1922, S. 1). Der Vorwurf wog umso schwerer, da bereits der Musikvereinssaal aus Mitteln des „Czernowitzer Theatervereins“ in eine „Notbühne“ (ebd.) umgestaltet worden war. Ein Grund für das Spielverbot deutschsprachiger Stücke war das Anliegen der Behörden, das rumänische Theater zu popularisieren und das Publikum dafür zu gewinnen. Das deutsche und rumänische Theater sollten sich „nicht gegenseitig Konkurrenz machen“ (Czernowitzer Morgenblatt, Nr. 1316), 19. November 1922, S. 4f.).
Im Unterschied zu Schule und Universität konnte der Staat zwar auch im Theater eine Rumänisierung durchsetzen, jedoch nicht das Publikum dazu verpflichten, die Vorstellungen auch anzunehmen und zu besuchen. Daher wurde versucht, mögliche Störfaktoren wie die Präsenz deutschsprachiger Aufführungen in diesem Zeitraum zu verhindern. Die rumänischen Behörden unternahmen dennoch Versuche, die Anerkennung des rumänischen Theaters als allgemeine staatsbürgerliche Verpflichtung zu fordern. Der Vorwärts ermittelte aus der Haltung des rumänischen Kulturbeamten Gavril Rotică eine versteckte Drohung gegenüber einer „unzufriedene[n] Minorität“ (Vorwärts, Nr. 208, 26. September 1922, S. 2f.). Rotică behauptete, eine Ignorierung des rumänischen Theaters durch das Publikum sei eine Form der „passiven Resistenz“ und würde „einem verdammenswerten Gefühle der Feindschaft gegenüber der rumänischen Sprache entspringen“. Der Vorwärts schlussfolgerte daraus, dass die kommende rumänische Theatersaison daher „eine Prüfung der Gefühle aller gegenüber rumänischer Kultur“ sein werde und Rotică das rumänische Theater „zu einer Loyalitätsprüfungszentrale, zu einer Art künstlerisch verbramter Nebenstation der Siguranza“ degradiere.
Die deutsche Theatersaison sollte bis Ende Marz 1923 andauern, doch ließen wirtschaftliche Schwierigkeiten eine kontinuierliche Theaterarbeit kaum noch zu. Trotz der vertraglichen Vereinbarungen sah sich das deutsche Theater gezwungen, die Bühne für kurze Gastspiele rumänischen Ensembles zu überlassen, was Nachmittagsvorstellungen notwendig machte, die nicht überaus stark frequentiert waren (Czernowitzer Allgemeine Zeitung, Nr. 1619, 27. Februar 1923, S. 1). Nach einer neuerlichen Besetzung des Theaters konnten im Februar 1923 die Gagen an die Ensemblemitglieder nicht mehr ausgezahlt werden (Czernowitzer Allgemeine Zeitung, Nr. 1622, 2. März 1923, S. 2). Eine deutschsprachige Bühne verschwand im „Teatrul Naţional“ im März 1923 endgültig. Constantin Berariu, der Generaldirektor des Theaters, stellte daraufhin fest, dass die Frage, inwieweit zukünftig auch nichtrumänischen Nationen „auf der Bühne des Nationaltheaters Wirkungsmöglichkeit geboten wird“ (Czernowitzer Allgemeine Zeitung, Nr. (1628), 9. März 1923, S. 2) noch nicht gelöst werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt dominierte bereits unter den rumänischen Kulturschaffenden und Medien der Diskurs über die Funktion des rumänischen Theaters zur Förderung der kulturellen Assimilation der Minderheiten.
Text: Markus Winkler
Quelle:
Markus Winkler: Nationale Umbrüche, Antisemitismus und das deutsch-jüdische Verhältnis: Zur Rolle der deutschsprachigen Presse in der Czernowitzer Theaterkrise (1921-1923). In: Deutschsprachige Öffentlichkeit und Presse in Mittelost- und Südosteuropa (1848-1948). Hrsg. von Andrei Corbea-Hoisie, Ion Lihaciu und Alexander Rubel. Jassy, Konstanz: Editura Universităţii / Hartung-Gorre Verlag 2008 (Jassyer Beiträge zur Germanistik XII), S. 461–486.