Er zog für drei Jahre nach Czernowitz und organisierte mit seinen Anhängern aus der akademischen Verbindung „Jüdische Kultur“ vom 30. August bis 3. September 1908 für über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Ershte yidishe shprakh-konferents, auf der u. a. über die Vereinheitlichung der jiddischen Orthographie und Grammatik und über Schaffung eines Netzwerkes für jiddische Sprachschulen in ganz Europa diskutiert wurde (Fishman, S. 325). Czernowitz wurde nicht zufällig als Konferenzort gewählt, lag die Stadt doch geographisch relativ günstig für die meisten Teilnehmer aus Europa (insbesondere aus Russland, Rumänien und aus Galizien). Darüber hinaus war Czernowitz ein Ort mit einer relativ liberalen Stimmung gegenüber dem jüdischen Nationsgedanken und hatte sogar als erste Landeshauptstadt eines Kronlandes der Habsburgermonarchie einen jüdischen Bürgermeister (Eduard Reiss, 1905-07). Die Eröffnung der Konferenz fand im Musikvereinssaal statt, da das eigentlich als Veranstaltungsort vorgesehene Jüdische Nationalhaus erst im Spätherbst 1908 eröffnet wurde (möglicherweise wollte aber auch Benno Straucher, Präsident der israelitischen Kultusgemeinde, die Abhaltung im Jüdischen Nationalhaus verhindern).
Die Organisatoren stellten ein umfängliches Programm zusammen, das Themen wie Grammatik, Orthographie, Orthoepie der Literatursprache sowie die gegenwärtige Entwicklung des jiddischen Theaters, der Kultur und Presse umfasste. An der Konferenz nahmen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die wichtigsten jiddischen Intellektuellen teil, darunter Ester Frumkin (Wilna), Chaim Zhitlovski (New York), Scholem Asch (Warschau), Isaak Leib Peretz (Warschau) und Abraham Reisen (Krakau). Zur Konferenz erschien auch eine eigene Zeitung – Dr. Birnboym’s vokhnblat –, die ausgebaut werden sollte, um die jiddische Sprachbewegung vor Ort zu unterstützen, jedoch bereits nach sechs Nummern von Birnbaum eingestellt werden musste.
Im Kern der Konferenz ging es jedoch darum, Jiddisch als die nationale Sprache des jüdischen Volkes anzuerkennen. Doch nicht alle Teilnehmer unterstützen diese Forderung, da man Hebräisch durchaus als ein Bindeglied der jüdischen Existenz betrachtete und Jiddisch nur als eine Sprache des jüdischen Exils. Nach heftigen Auseinandersetzungen einigte man sich auf einen Kompromiss und beschloss, Jiddisch als eine Sprache des jüdischen Volkes zu deklarieren.
Die entsprechende Resolution wurde in der Lokalpresse veröffentlicht: „Die erste jüdische [sic] Sprachkonferenz anerkennt Jüdisch [sic] als eine nationale Sprache des jüdischen Volkes und fordert ihre gesellschaftliche und kulturelle Gleichberechtigung. Dabei betrachtet es die Konferenz als nötig zu erklären, daß einem jeden Teilnehmer an die dieser Konferenz wie auch jedem Mitglied der zu schaffenden Organisation die Freiheit bleibt, sich zu der hebräischen Sprache gemäß seinen persönlichen Überzeugungen zu beziehe“ (Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 6. September 1908, S. 5).
Text: Markus Winkler und Olha Demchuk
Quellen:
Eröffnungsrede Nathan Birnbaums
Joshua A. Fishman: The Tshernovits Conference revisted. The First World Conference for Yiddish, 85 years later. In: ders. (Hg.): The Earliest Stage of Language Planning. The "First Congress" Phenomenon. Berlin, New York 1993.
Konferenz 2008 in Tscherniwzi in Erinnerung an die Sprachkonferenz 1908
Webseite von Iosif Vaisman mit diversen Dokumenten zur Konferenz
Markus Winkler: Nathan Birnbaum in Czernowitz: Ideenwelten und Publizistik. In: Analele Stiinţifice ale Universităţii „ Alexandru Ioan Cuza“ din Iaşi (Serie Nouă). Tomuri XIII–XIV 2010–2011. Editura Universităţii „Alexandru Ioan Cuza“ Iaşi 2011, S. 243–262