Das Prinzip und Hauptziel der Ausgleichsverhandlungen lagen darin, alle Ethnien und sämtliche Landessprachen gleichzustellen. Mit dem nationalen Ausgleich sollte ein Wahlsystem geschaffen wurde, das alle Volksgruppen berücksichtigte. Der 1910 vereinbarte nationale Ausgleich ging auf die Initiative von drei politischen Führern in der Bukowina zurück: dem Jungruthenen Nikolaus von Wassilko, dem Gründer der Rumänischen Demokratischen Partei Aurel von Onciul und dem Gründer der nationaljüdischen Partei Benno Straucher.
Die Gesetzentwürfe zum Bukowinaer Ausgleich waren zum Teil wörtlich dem Modell der mährischen Ausgleichgesetze von 1905 entnommen. Allerdings waren in der Landeshauptstadt Czernowitz nicht zwei, sondern fünf „nationale Kurien“ im Landtag vorgesehen: Ruthenen (Ukrainer), Rumänen, Deutsche, Polen und Juden. Die Berücksichtigung der jüdischen Bevölkerung als eigene nationale Wählergruppe war die eigentliche Sensation der Ausgleichsverhandlungen in Czernowitz. Und diese Implementierung der jüdischen Bevölkerung in das System der politischen und nationalen Repräsentation eines Kronlandes war einzigartig in ganz Österreich, da die Juden zuvor nur als Religionsgemeinschaft wahrgenommen wurden. Doch dem in Czernowitz erreichten Konsens stimmte die Wiener Regierung nicht zu. Sie legte ihr Veto gegen die Einführung einer eigenen jüdischen nationalen Wählerklasse und einer eigenen jüdischen Kurie im Landtag ein. Die Juden bildeten daraufhin mit den Deutschen eine gemeinsame Kurie.
Der Landtag der Bukowina wurde durch die zeitgleich durchgeführte Landtagsreform beträchtlich aufgestockt, und zwar von 31 auf 63 Mitglieder. Die ersten Wahlen nach dem neuen System fanden in der Bukowina im April und Mai 1911 statt.
Das damalige Wahlsystem galt als eines der komplexesten in der Habsburgermonarchie und es bildete auch nicht die Realität des Kronlandes Bukowina ab, das ein Spiegelbild des Vielvölkerstaates war. In der Bukowina lebten mehr Minderheiten als die vier Kurien und Wählergruppen berücksichtigen konnten. Die zahlenmäßig kleineren Ethnien mussten sich folglich den größeren Gruppen anschließen, um ihre Stimmen einbringen zu können. Nichtsdestotrotz war dieses System am Vorabend des Ersten Weltkrieges gerechter als die Wahlordnungen in den meisten anderen Kronländern.
Text: Ruslana Bovhyria
Materialien: John Leslie: Der Ausgleich in der Bukowina von 1910: Zur österreichischen Nationalitätenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Erschienen, Geschichte zwischen Freiheit und Ordnung. Hg. v. Emil Brix, Thomas Fröschl, Josef Leidenfrost. Graz 1991, S. 113-144.