Frage: Wir treffen uns hier im ehemaligen jüdischen Nationalhaus. Was können Sie uns zu diesem Gebäude sagen?

Milman: Wir befinden uns in einer sehr interessanten Situation, denn das ehemalige jüdische Haus ist heutzutage der zentrale „Kulturpalast“ von Czernowitz. Die jüdische Gemeinde nutzt hier nur zwei Räume. Dazu kommt das jüdische Museum, das sich im Erdgeschoss des Gebäudes befindet. Ansonsten finden in diesem Haus verschiedene Konzerte und Unterhaltungsangebote für die Einwohner statt – es ist also ein kultureller Treffpunkt für alle, nicht nur für Juden.

Gibt es Kooperationen mit den (anderen) Nationalhäusern der Stadt?

Ja, natürlich. Zum Beispiel mit dem deutschen Haus. Czernowitz ist nicht so groß, das heißt wir kennen uns alle und besuchen uns hin und wieder gegenseitig.

Welche anderen Orte in Czernowitz werden heute von der jüdischen Gemeinde genutzt?

Zur jüdischen Gemeinde gehören verschiedene andere Bauwerke, wie zum Beispiel die zwei Synagogen. Die jüdische Gemeinde basiert auf unserer Religion und unseren Synagogen. Eine der beiden Synagogen ist sehr alt und war sogar während des Krieges in Betrieb. Das ist etwas sehr Besonderes, denn insgesamt waren nur 14 Synagogen in ganz Europa in den 40er Jahren geöffnet.

Welche kulturellen Events organisiert die jüdische Gemeinde und wo finden diese statt?

Wo die Veranstaltungen stattfinden, hängt ganz von Art und Größe des Events ab. Kleine Veranstaltungen, wie etwa ein Konzert, können hier im Haus abgehalten werden, doch wenn wir 400 Menschen unterbringen möchten, nutzen wir beispielsweise ein großes Restaurant. Große jüdische Feste wie Chanukka werden traditionell auf großen Plätzen wie beispielsweise dem Theaterplatz abgehalten. Dort spielen dann Musiker und auch der Bürgermeister hält manchmal eine Rede. Größtenteils sind die Aktivitäten offen für alle. Übrigens kommen zu einigen Veranstaltungen auch Touristen, darunter auch jüdische Touristen, die Czernowitz gerne besuchen, da dies eine sehr spirituelle Stadt für sie ist.

Wie groß ist die jüdische Gemeinde in Czernowitz und der Region derzeit?

Interessante Frage! Darauf gibt es keine eindeutige Antwort, denn es gibt verschiedene Weisen, die Mitglieder zu zählen. Wenn man die Zahlen entsprechend des religiösen Gesetztes betrachtet, sind es nicht mehr als 2.000 Leute. Fasst man die Kalkulation weiter, im Sinne des Israelischen Gesetztes, dann sind es etwa 10.000, wovon die meisten in Czernowitz selbst leben.

Wie setzt sich diese jüdische Gemeinschaft zusammen?

Die jüdische Gemeinschaft ist sehr heterogen. Es gibt heute viele Leute, die aus der Ukraine wegziehen. Außerdem leben hier auch einige Menschen, die lange Zeit nichts von ihren jüdischen Wurzeln wussten. Sobald sie dies herausgefunden haben, kommen sie oft zu uns in die Gemeinde – ein interessanter Prozess. Die jüdische Gemeinde basiert auf Freiwilligkeit. Neben mir gibt es derzeit circa 20 bis 30 Mitglieder, die besonders motiviert und interessiert sind und so die Arbeit in der Gemeinde vorantreiben.

Wie hat sich die Rolle der jüdischen Gemeinde im Laufe der Jahre Ihrer Meinung nach verändert?

Wissen Sie, die jüdische Gemeinde hat ein Hauptziel: Alle Juden zu vereinen. Dieses Ziel hat sich nicht verändert, doch die Art und Weise, wie dieses umgesetzt wird natürlich schon – genauso wie sich die ganze Welt verändert.

Wie werden die jüdischen Traditionen in Czernowitz weitergetragen?

Es gibt beispielsweise eine kommunale jüdische Schule, in der ebenso Hebräisch, wie jüdische Traditionen und Geschichte gelehrt werden. Nicht nur Juden besuchen diese Schule. Es ist keine religiöse jüdische Schule und deshalb können alle Kinder, die möchten oder die entfernte jüdische Wurzeln haben, dort aufgenommen werden. Menschen, die sich vertieft mit der jüdischen Tradition auseinandersetzen wollen, können ihrem Interesse zum Beispiel in der Synagoge nachgehen. Die dortigen Rabbis bieten Unterrichtsstunden an. Darüber hinaus kann man bei israelischen Organisationen auch Hebräisch-Sprachkurse belegen. Das Jiddische ist nicht so weit verbreitet, es gibt jedoch ältere Menschen in der Gemeinde, die diese Sprache mit großer Freude privat unterrichten.

Mittlerweile verlassen viele junge Leute Czernowitz und gehen in anderen Städten oder ins Ausland, um zu studieren. Warum haben Sie sich entschieden, hier zu bleiben?

Nun ja, einerseits bin ich nicht so jung. Und andererseits wurde ich hier geboren, meine Familie stammt von hier, ich bin hier zur Schule gegangen – ich liebe die Stadt. Und außerdem gibt es hier viel für mich zu tun.

Sie sind also nicht vollkommen zufrieden mit der derzeitigen Situation der jüdischen Gemeinde?

Nein, denn wir brauchen mehr jüdische Menschen, die sich in der Gemeinde beteiligen. Außerdem bräuchten wir mehr Geld, um die verschiedenen Events zu organisieren. Es sind viele Wünsche…

Dass besonders junge Leute gehen, zeigt sich also auch in Ihrer Gemeinde. Was unternehmen Sie, um diese Zielgruppe anzusprechen?

Da wir eine Gemeinschaft sind, die sich nicht an jedermann, sondern explizit an Juden und Menschen mit jüdischen Wurzeln richtet, betreiben wir keine Werbung im eigentlichen Sinne. Wir bieten den Jüngeren viele verschiedene Aktivitäten wie beispielsweise Workshops an und kommunizieren mit ihnen über Facebook, Instagram, … junge Leute erreicht man am besten mit Social Media.

Wie hat sich die Stadt generell während der Zeit, die Sie nun hier leben, verändert?

Laut den offiziellen Statistiken des Staates Israel sind rund 90.000 Menschen aus Czernowitz und der Region in den letzten Jahrzehnten nach Israel ausgewandert. 20.000 bis 30.000 emigrierten in Länder wie Deutschland oder in die USA. Außerdem ist auch eine nationale Migration in die größeren Städte wie Kiev oder Lviv zu verzeichnen. Letztendlich ist jedoch die Bevölkerungszahl so gut wie gleichgeblieben. Das heißt, es leben hier nun andere Menschen und das hat auch Veränderungen mit sich gebracht: Kulturell gesehen ist es nun eine andere Stadt als zu meiner Kindheit vor 25 Jahren.

Vielen Dank, Herr Milman.

 

Czernowitz, 11. Mai 2017

Das Interview führten Daniela Gast, Lilian Wascher und Alona Prozorova.

Foto: Czernowitzer Museum für jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina (Quelle)