In den 1910er-Jahren hatte Kettner damit begonnen, in Czernowitz öffentlich philosophische Vorträge zu halten. Elli Rottner erinnert sich in seinem Buch über das „Ethische Seminar“ (1973), dass Kettners Vorträge zunächst ein allgemeines Publikum anzogen. Später aber versammelten sich immer mehr junge Menschen um ihn. Das 1919 gegründete „Ethische Seminar“, das sich aus vorwiegend aus jungen Erwachsenen aus der zionistischen Bewegung „Hashomer Hazair“ zusammensetzte, kam regelmäßig zusammen, um philosophische Werke Spinozas und Brunners zu besprechen. An diesem Seminar nahm auch die junge Rose Scherzer (Ausländer) teil. Mit der Zeit avancierte das Seminar zu einem sektenähnlichen Gebilde, in dem Kettner die Rolle eines Meisters übernahm, so Elli Rottner in seinen Erinnerungen. Nachdem sich eine junge Teilnehmerin des Seminars, Berta Hollinger, das Leben genommen hatte, wurde Kettner nach Rosiori, einem kleinen Dorf in der Südbukowina, versetzt. 1923 emigrierte er nach Rumänien und später in die USA.
1922 hatte Kettner das Buch „Über Constantin Brunners Werk 'Der Judenhaß und die Juden'“ veröffentlicht. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt, als Kettner noch in Czernowitz wirkte, kam es zum Bruch mit Brunner sowie mit mehreren Seminarteilnehmenden. Zu Constantin Brunner äußerte sich Kettner in einem Brief an die „Ostjüdische Zeitung“ wie folgt: „[…] als ich fand, dass Brunner bloss ein philosophierender Jude – wie Sie ihn richtig charakterisieren – und kein spinozaistisch-denkender Mensch ist mit dem radikalen Interesse für Rede- und Gedankenfreiheit, nachdem ich ihn so fand, kam es zwischen mir und Brunner zum Bruch. Sie werden gewiss daraus entnehmen, dass ich niemals Brunners Jünger gewesen bin; ich könnte auch niemals der Prophet eines philosophierenden Juden sein.“ (9. März 1926, S. 3). Eliezer (Lothar) Bickel, der spätere Nachlassverwalter Brunners, antwortete auf den Brief Kettners mit einem entlarvenden Artikel ("Czernowitzer Morgenblatt", 14. April 1926), in dem er Kettner als „einen Mann von großer Begeisterungsfähigkeit, jedoch auch von geringer theoretischer Begabung“ bezeichnete.
In den USA pflegte Kettner zunächst noch Kontakte zum Brunner-Kreis um Rose Ausländer, die ebenfalls nach New York ausgewandert war. Nach dem endgültigen Bruch mit Brunner beschäftigte sich Kettner mit der Weiterentwicklung seiner philosophischen Lehre der Biosophie und mit der Rezeption von Spinozas Schaffen. 1928 gründete er in New York „The Spinoza Institute of America“, das die Zeitschrift „The Spinoza Quarterly“ unter Kettners Leitung herausgab. 1933 wurde das Institut in „The Biosophical Institute“ umbenannt und die Zeitschrift erschien von nun an unter dem Titel „The Biosophical Review“. Biosophische Institute wurden auch in Chicago und in Buenos Aires gegründet. 1932 erschien Kettners „Spinoza, the Biosopher“, sein wichtigstes Buch zum Werk Spinozas. Kettner schrieb auch Gedichte, die er ebenfalls als biosophisch bezeichnete, wie z.B. „Life and Spirit (biosophical poems)“ von 1948. 1939 gehörte er zu einer Reihe von Interviewpartner in der Dokumentation „World Leaders on Peace and Democracy“, in dem auch Albert Einstein und Thomas Mann zu Wort kamen. Kettner starb im März 1957 in den USA.
Text: Kateryna Stetsevych und Markus Winkler
Materialien:
- Lothar Bickel: "Kettners Entlarvung?". Beitrag im "Czernowitzer Morgenblatt", 14. April 1926 (Constantin Brunner Collection)
- Dokumentation „World Leaders on Peace and Democracy“ (1939)
- Friedrich Kettner: Über Constantin Brunners Werk „Der Judenhass und die Juden“. Wien, Berlin 1922
- Rezension zu: Spinoza, the Biosopher (1932)
- Eli Rottner: Das Ethische Seminar in Czernowitz. Die Wiege des Internationalen Constantin-Brunner-Kreises. Dortmund 1973