Geplant ist das Angebot mehrerer Forschungs- und Lehrmodule mit jeweils unterschiedlichen Rechercheschwerpunkten. Diese Module werden gemeinsam mit Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern der Nationalen Universität Tscherniwzi durchgeführt. Die folgenden Forschungsmodule (Personen, Ereignisse, Orte) werden durch mehrtägige Impuls-Workshops des Projektleiters an der Nationalen Universität Tscherniwzi vorbereitet und begleitet.
a) Personen
Ziel ist es, Personen und ihre biographischen Wegmarken im Raum zu verorten und diese Verortung durch Archivmaterialien und weitere Dokumente abzusichern bzw. zu illustrieren. Es soll dadurch gezeigt werden, dass es keine eindimensionale Perspektive geben kann, sondern Biographien, Einstellungen und Positionen immer auch durch den historischen Kontext interpretiert werden sollten. Menschen aus der Bukowina waren im 19. und 20. Jahrhundert häufig repräsentativ für einen kulturellen Transfer, aber auch für biographische Brüche, was sprachliche und kulturelle Identitäten betrifft. Einige Bespiele: Der rumänische Nationalschriftsteller Mihai Eminescu besuchte in Czernowitz in den 1860er Jahren die deutsche Oberschule, der deutsch-jüdische Dichter Paul Celan war in den späten 1930er Jahren Schüler des ukrainischen Gymnasiums. Die ukrainische Schriftstellerin Olha Kobylanska verfasste und veröffentlichte ihre ersten Texte auf Deutsch. Die Hebraisten unter den Czernowitzer Zionisten und Herzl-Anhänger waren deutsch-akkulturiert, wie auch Nathan Birnbaum, der die erste jiddische Sprachkonferenz 1908 in Czernowitz organisiert, selbst jedoch des Jiddischen kaum mächtig war – im Gegensatz zum jiddischen Fabeldichter Elieser Steinbarg. Der Gründerrektor der deutschsprachigen Universität 1875 war der Pole Constantin Tomaszczuk. Personen, die als Rechercheobjekte für das Projekt in Frage kommen (Auswahl): Literaten und Künstler (Paul Antschel/Celan, Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger, Gregor von Rezzori, Sidi Thal, Elieser Steinbarg, Josef Burg, Arthur Kolnik, Mihai Eminescu, Joseph Schmidt, Ludwig Rottenberg, Olha Kobylanska, Lessja Ukrainka), Politiker und Historiker (Ion Nistor, Iancu Flondor, Benno Straucher, Mayer Ebner, Leon Kellner, Philipp Menczel, Nathan Birnbaum, Constantin Tomaszczuk), Pädagogen und Wissenschaftler (Susanne Rubinstein, Eugenie Schwarzwald, Raimund Friedrich Kaindl, Aron Pumnul, Wilhelm Reich, Stefanie von Turetzki, Erwin Chargaff, Eugen Ehrlich) u.a. Dieses Modul wird durch Zeitzeugen-Interviews (oral history) ergänzt.
b) Ereignisse
Ziel ist es, Ereignisse zu untersuchen, die für die Stadt- und Raumgeschichte prägend gewesen sind. Es können punktuelle Ereignisse sein, die die Vielfalt der Sprachen und Ethnien und ihre Bedeutung für den Raum repräsentieren, z.B. die erste (und einzige) jiddische Sprachkonferenz von 1908, an der die bedeutendsten jiddischen Dichter teilnahmen und auf der das Jiddische im Schlussprotokoll als eine der beiden Nationalsprachen der Juden (neben Hebräisch) deklariert wurde, oder die Abstimmung über den sogenannten „Bukowiner Ausgleich“ (1910), eine Wahlreform, die die nationalitätenrechtlichen Probleme im Kronland lösen sollte (aufgrund der ethnischen Vielfalt galt das Wahlsystem als eines der kompliziertesten in Europa). Darüber hinaus stellen die politischen Zäsuren (1914, 1918/19, 1940/41) in der Bukowina Ereignisse dar, die in viel stärkerem Maße die gesamte Bevölkerung betrafen, das Alltagsleben systematisch veränderten, auch zur Flucht zwangen oder mit Deportationen verbunden waren. Der Erste Weltkrieg: Stand die Region im Ersten Weltkrieg als Kriegsschauplatz im Fokus (Czernowitz erlebte drei russische Besatzungsphasen zwischen 1914 und 1917, in denen zehntausende Bewohner in den Westen flohen), folgte nach der Eingliederung der Bukowina in das Rumänische Königreich 1918/19 eine Phase der Rumänisierung und Sprachpolitik, die zahlreiche deutsche Lehrer und Universitätsdozenten zur Ausreise zwang und ab den 1930er Jahren auch von einem zunehmenden Antisemitismus begleitet wurde. Eine weitere Zäsur ereignete sich am 28. Juni 1940, als die Nordbukowina inklusive Czernowitz von sowjetischen Einheiten besetzt wurde. Der am 5. September 1940 unterzeichneten "Deutsch-sowjetrussischen Vereinbarung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung aus den Gebieten von Bessarabien und der Nördlichen Bukowina in das Deutsche Reich" folgte zwischen dem 27. September und dem 17. November 1940 die fast vollständige Umsiedlung der deutschen Volksgruppe. Teile der jüdischen Bevölkerung (ca. 3.000 Personen) wurden als sogenannte „Volksfeinde“ nach Sibirien deportiert. Das tragische Ende eines Großteils der Juden in der Region ereignete sich nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion. In Czernowitz kam es ab dem 6. Juli 1941 zu Verbrechen an der großen jüdischen Bevölkerungsgruppe, nachdem rumänische Einheiten und ein Kommando der SD-Einsatzgruppe D unter Otto Ohlendorf die Stadt erreicht hatten. Sie verwüsteten jüdische Einrichtungen, brannten den Israelitischen Tempel nieder und erschossen mehrere hundert Juden, darunter Repräsentanten der jüdischen Gemeinde wie den Oberrabbiner Abraham Jakob Mark. Fast 50.000 Czernowitzer Juden wurden in einem Ghetto zusammengepfercht. Im Oktober und November 1941 und im Juni 1942 folgten Deportationen von 32.530 Juden in die Lager Transnistriens. Mit Hilfe von Sonderausweisen (Autorisationen) konnten 15.633 Juden in Czernowitz verbleiben. Am 28. März 1944 erreichte die Rote Armee Czernowitz. Von 1947 bis 1991 gehörte die Stadt zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Seit Dezember 1991 ist Czernowitz Teil der unabhängigen Ukraine.
c) Orte
Ziel es ist, anhand von Orten und Gebäuden geschichtliche Prozesse in Czernowitz und der Bukowina zu erforschen und darzustellen. Diese Prozesse umfassen im weitesten Sinne eine Funktionsgeschichte (Entstehung und Wandel bis hin zu der gegenwärtigen Funktion eines Gebäudes), eine Siedlungsgeschichte (z.B. Rosch als ehemaliges Siedlungsgebiet der deutschen Volksgruppe oder das jüdische Armenviertel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und eine Geschichte, aus denen sich Erinnerungstopoi ableiten lassen oder die zu einer politischen Instrumentalisierung führen. Denn Orte sind auch Ausdruck von Wandel und Brüchen: Die ehemalige Hauptsynagoge der Juden – der Israelitische Tempel – wird seit den 1960er Jahren als Kinogebäude genutzt. Denkmäler sind aus dem Stadtbild verschwunden bzw. wurden an Ort und Stelle durch Objekte ersetzt, die die neuen Machtverhältnisse widerspiegelten. Am Zentralplatz wurde die österreichische Mariensäule (1827) durch das rumänische Unirea-Denkmal ersetzt (1924), das wiederum der Lenin-Statue weichen musste (1951) ehe dieses durch das Taras Schewtschenko-Denkmal ausgetauscht wurde (1999). Ebenso verhält es sich mit den Straßennamen, die epochenweise ausgetauscht wurden, eine Entwicklung, die bis heute anhält (nach dem Euromaidan 2014 wurden wichtige Straßen umbenannt, u.a. zwei Magistralen der Stadt: Straße der Roten Armee in Straße der Helden des Maidan und Stassjuk Straße in Straße der Himmlischen Hundertschaft (in Erinnerung an die Toten auf dem Maidan). Anhand von Orten und Gebäuden lassen sich auch die Querverbindungen zwischen den Nationen und Kulturen belegen. Die Czernowitzer Philharmonie wurde 1877 als Konzerthalle der Ukrainischen Musikgesellschaft eröffnet und ab den 1920er Jahren vom deutschen Theaterensemble genutzt, nachdem dieses wiederum von einer rumänischen Studentengruppe während einer Aufführung von Schillers „Räuber“ aus dem Stadttheater (das eigentlich allen Nationalitäten offenstand) vertrieben worden war. Orte und Gebäude, die sich für das Projekt eignen (Auswahl): Volkshäuser (Jüdisches Haus, Deutsches Haus, Palatul Culturii, Dom Polski, Ukrainskyj Narodnyj Dim), Schulen (Obergymnasien, Real-, Volks- und Privatschulen), Universitätsgebäude, Sprach- und Bildungsvereine (Safah Ivriah, Arbeitsbildungsverein, Jüdische Toynbeehalle, Ethisches Seminar, Morgenroit u.a.), Kirchen (Synagogen, Israelitischer Tempel, röm.-kath., gr.-kath., gr.-orth., ev., armenische Kirchen), Militäreinrichtungen, Friedhöfe, Verwaltungsgebäude (Landesregierung, Justizpalast), Konsulate, Cafés (als Ort der literarischen und diskursiven Repräsentation) und sonstige Einrichtungen (z.B. Hotel zum „Schwarzen Adler“ als Hauptquartier der SD-Einsatzgruppe D im Juli 1941) u.a.